The Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA)
RAWA


 

 

Jungle World, October 2, 2008

Interview - »Zoya« im Gespräch über Gewalt gegen Frauen und die internationalen Truppen in Afghanistan

Ein demokratischer Wandel ist keine Tagesaufgabe – sondern eine, die vielleicht drei Jahrzehnte dauern könnte.

Interview: Matthias Galle

Die Frauenrechtsgruppe Rawa (Revolutionary Association of the Women of Afghanistan) engagiert sich seit 1977 sozial und politisch für die Durchsetzung von Menschen­rechten für Frauen in Afghanistan. In der Organisation sind 2000 Frauen in Afghanistan und Pakistan aktiv. Eine von ihnen ist die 1978 geborene »Zoya«, die nach der Ermordung ihrer Eltern selbst in einer Schule der Rawa in Pakistan das erste Mal eine Schulbildung erhielt. Wie alle RAWA-Aktivis­tinnen tritt sie aus Sicherheitsgründen nur unter Pseudonym an die Öffentlichkeit und lässt sich nicht fotografieren.

Vor zwei Jahren beschrieb Ihre Kollegin Sahar Saba in der Jungle World (38/06) die Lage für Frauen in Afghanistan auch fünf Jahre nach dem Sturz der Taliban als katastrophal. Hat sich die Situation für Frauen in den letzten zwei Jahren verbessert?

Nein. Die Situation hat sich eher verschlechtert. Dabei werden Frauen von zwei Seiten unterdrückt. Zum einen durch häusliche Gewalt, zum anderen durch Gewalt, die von Fundamentalisten aus­geht. Frauen werden von den bewaffneten Anhängern der mächtigen Warlords in den verschie­denen Provinzen vergewaltigt, entführt, gefoltert und ermordet. Dabei steigt die Gewalt gegen Frauen täglich an und es gibt hunderte Beispiele. Eines ist das Schicksal der 14jährigen Bashira, die von einer Gruppe von Männern, der auch der Sohn eines Parlamentsmitgliedes angehörte, ver­gewaltigt wurde. Bis heute gab es keinen Prozess gegen den 22jährigen.

Wie reagieren die Soldaten der internationalen Truppen, wenn sie mit Gewalt gegen Frauen konfrontiert werden?

Dann gibt es keine Reaktion. Sie sind gegen­über Gewalt gegen Frauen völlig nachlässig. Wenn sie jemandem Schutz geben, dann den Warlords. Die Mädchen, welche unter Schock stehen und weinen, weil sie vergewaltigt und gefoltert wurden, kann man sogar im Fernsehen sehen. Da wurden zum Beispiel Szenen gezeigt, in ­denen die Mädchen fragen: »Wohin sollen wir denn gehen? Es gibt niemanden, der uns Gerechtigkeit bieten kann.« Das zeigt, dass diese Truppen niemals ver­sucht haben, den Menschen zu helfen.

Was für Auswirkungen haben diese Gewalt­erfahrungen auf den Alltag von Frauen?

Dass es vor allem Frauen in den Provinzen weiter­hin vorziehen, sich mit der Burka zu bekleiden, ob­wohl es seit dem Ende der Taliban-Herrschaft kei­nen Zwang mehr zum Tragen der Burka gibt. Sie bekleiden sich zu ihrem eigenen Schutz mit dem Ganzkörperschleier. Würden sie als junge, hübsche Frauen die Aufmerksamkeit eines Warlords in der Provinz auf sich ziehen, müssten sie Angst haben, überfallen, vergewaltigt, entführt oder gefoltert zu werden.

Während der Taliban-Herrschaft hat RAWA ein zu der Zeit illegales Netzwerk von Mädchenschulen und Bildungsprogrammen für Frauen aufgebaut. Nun gibt es wieder Schulen in Afghanistan – auch für Frauen. Die Organisation Rawa führte jedoch ihre Bildungsarbeit fort. Warum ist das notwendig?

Viele Menschen sagen, die Schulen in Afghanistan seien offen für alle, was ein Zeichen für die Demo­kratisierung und die Stärkung der Rechte der Frau in Afghanistan sei. Angesicht der Milliarden von US-Dollar, die in das Land geflossen sind, hat sich beim Wiederaufbau der Schulen allerdings eher wenig getan. An den Schulen, die es gibt, arbeiten keine guten Lehrer, zudem ist die Ausstattung mangelhaft. Wenn es die Möglichkeit für Kinder gibt, eine Schule zu besuchen, schicken Eltern ihre Töchter jedoch nur ungern dorthin, vor allem aus Angst, ihre Mädchen könnten auf dem Weg zur Schule vergewaltigt oder entführt werden. Die miserable Sicherheitslage ist das Hauptpro­blem. Wenn es einmal zu einem Zwischenfall auf dem Schulweg gekommen ist oder wenn ein Mäd­chen zwangsverheiratet worden ist, dann hat es sich mit der Schulbildung für viele Mädchen erledigt. Einem funktionierenden Bildungssystem steht außerdem die mangelnde Nahrungsmittel- und medizinische Versorgung entgegen. Wie soll man mit einem leerem Magen oder Fieber offen für Bildung sein?

Wie sehen die Bildungsprogramme von Rawa aus?

Wir organisieren Lese- und Schreibkurse für Frauen, welche nicht mehr ganz so geheim geplant werden müssen wie zu Zeiten der Taliban. Unsere Kurse finden sowohl in den Provinzen als auch in Kabul sowie in den afghanischen Flücht­lingslagern in Pakistan statt. Darüber hinaus haben wir auch Programme zur Gesundheitsvorsorge. Wir konzentrieren uns auf die Dörfer und ländlichen Gegenden, die von NGO und anderen Organisationen nicht erreicht werden. Dort treffen wir uns dann zum Beispiel im Haus einer Lehrerin, laden die Nachbarinnen ein, über diese bekommen dann auch andere Frauen und Fami­lien von dem Vorhaben mit, und am Ende wissen alle in der Gegend von dem Lese- und Schreibkurs und können mitmachen. Die Teilnahme ist kosten­los.

Viele konservative Familien haben aber doch sicher ein Problem damit, ihren Töchtern die Teilnahme an Bildung zu gewähren.

Das stimmt, es gibt überall sehr konservative Familien, aber die Mehrheit der Menschen in Afghanistan hat inzwischen verstanden, dass auch Mädchen Bildung genießen sollten. Die Welt entwickelt sich immer weiter, und das hat auch einen Einfluss auf Afghanistan. Trotzdem gibt es Probleme mit Familien, die ihren Töchtern nicht erlauben, an Bildung teilzuhaben.

Ihre Kollegin Sahar Saba forderte noch im Jahr 2006 mehr internationale Truppen in Afghanistan. Ihre Meinung heute ist jedoch, dass sich die ausländischen Truppen zurückziehen sollten. Warum diese Meinungsänderung?

Von Anfang an war unsere Haltung zu den internationalen Truppen an Bedingungen geknüpft. Was seine Dauer angeht, hätte der Einsatz auf eine kurze Zeit angelegt werden sollen. Außerdem hätte das Ziel der Soldaten sein müssen, die fundamentalistischen Parteien und Privatarmeen zu entwaffnen, die Kriegsverbrecher zu entmach­ten und die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen vor ein internationales Gericht zu stellen. Da­neben wäre es ihre Aufgabe gewesen, den demokratischen Kräften Schutz zu bieten, um den Aufbau einer echten Demokratie zu gewährleisten. Unter diesen Umständen hätten wir Truppen in Afghanistan akzeptiert und begrüßt.

Aber schon kurz nach Stationierung der Soldaten war abzusehen, dass sie nicht die Aufgaben übernahmen, Schutz für den Aufbau einer Demo­kratie zu bieten oder fundamentalistische Gruppen zu entwaffnen. Sie unterstützten sogar noch die jihadistische Nordallianz. Unter diesen Bedingungen sagen wir nun nach sieben Jahren der Präsenz internationaler Truppen, dass ihre Sta­tio­­nierung in Afghanistan keinen Beitrag zu einer positiven Veränderung leistet. Im Gegenteil sorgen sie für zusätzliche politische Konflikte. Deshalb fordern wir einen Truppenrückzug.

Im Dezember 2007 erklärte Rawa, dass die Men­schen in Afghanistan bei einem Truppenrückzug kein Vakuum spüren würden, sondern stattdessen ein positiver Neuanfang möglich wäre. Im Südlibanon übernahm die islamistische Hizbollah direkt die Macht, nachdem sich israelische Truppen im Jahr 2000 aus dem Gebiet zurückgezogen hatten.

Wir wissen um die Gefahr eines Bürgerkrieges. Wenn die internationale Gemeinschaft uns jedoch wirklich helfen will, dann ist ein erster Schritt in diese Richtung der Rückzug der Truppen – in Verbindung mit anderen Maßnahmen. Dazu ­gehören die Entwaffnung der fundamentalistischen Gruppen und Prozesse gegen die afghanischen Kriegsverbrecher vor internationalen Gerichten. Wenn diese Schritte nach einem Abzug der Truppen unternommen werden, glauben wir, dass es eine kraftvolle demokratische Alterna­tive gegen Fundamentalismus geben kann, ein Aufstreben demokratischer Bewegungen mit ­Unterstützung der Bevölkerung möglich ist und sich Afghanistan auf diesem Weg zu einem demokratischen Staat wandeln kann.

Wer soll die Fundamentalisten entmachten und die demokratischen Kräfte schützen, wenn die internationalen Truppen abziehen? Immerhin nehmen sie es mit bewaffneten und gewaltbereiten Gruppierungen auf.

Zum einen sehen wir auch mit den tausenden Soldaten im Land nicht, dass demokratische Organisationen vor Fundamentalisten geschützt werden, zum anderen erwartet niemand eine Ver­änderung von einem Tag auf den anderen. Ein demokratischer Wandel ist keine Tagesaufgabe – sondern eine, die vielleicht drei Jahrzehnte dauern könnte. Diese Aufgabe kann nicht nur von Afgha­nistan aus bewältigt werden. Das ist der Grund, warum Rawa-Aktivistinnen auch in den westlichen Ländern Menschen erreichen wollen. Denn diese können auf ihre Regierungen Druck aus­üben, die Afghanistan-Politik zu ändern, das heißt, die Unterstützung fundamentalistischer Gruppen zu beenden und stattdessen auf demokratische Stimmen zu setzen. Ohne den Druck der Menschen wird sich nichts ändern – damit sind sowohl die Menschen in Afghanistan als auch in den westlichen Ländern gemeint.

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