Originaltext aus Falter 46/01 vom 14.11.2001


"USA wiederholen Fehler"


AFGHANISTAN Unter Lebensgefahr unterrichtet die afghanische Frauenorganisation Rawa seit Jahren Mädchen und dokumentiert die Verbrechen der Taliban. Rawa-Mitarbeiterin Shalah über die verfehlte Militärstrategie der USA, die Angst vor der Nordallianz und frauenfeindliche Passagen im Koran. EVA WEISSENBERGER (E-Mail: weissenberger@falter.at) und NINA WEISSENSTEINER (E-Mail: weissensteiner@falter.at)


Die von den Taliban vorgeschriebene Burka legt die 26-jährige Afghanin Shalah (ein Tarnname) nur mehr fürs Foto an. In ihrer Heimat kämpft sie gegen das Kleidungsstück mit dem kleinen vergitterten Sehschlitz, das afghanische Frauen tragen müssen. Verrutscht der Überwurf, droht ihnen die Prügelstrafe auf offener Straße. Heute dient Shalah die Burka nur mehr dazu, unerkannt zu bleiben. Denn auch in ihrer jetzigen Heimat, Pakistan, ist die junge Frau, Mitarbeiterin bei der oppositionellen Frauenbewegung Rawa, nicht sicher vor den Taliban. Ihre Organisation engagiert sich gegen alles, was die Gotteskrieger den Frauen verboten haben: Unter Lebensgefahr lehren Rawa-Aktivistinnen Mädchen Lesen und Schreiben und organisieren für Witwen und allein stehende Frauen (Heim-)Arbeit. Seit Jahren dokumentiert Rawa auch die Verbrechen der Taliban mit Minidigitalkameras und veröffentlicht die Bilder von Erschießungen und Hängungen im Internet (http://www.rawa.org/).

Rawa ist aber nicht nur in Afghanistan, sondern auch in den Flüchtlingslagern in Pakistan aktiv. Der Falter unterstützt nun ein Spendenprojekt für ein kleines Hospital in Pakistan, wo Frauen und Kinder, die aus Afghanistan geflüchtet sind, von Rawa medizinisch versorgt werden sollen (siehe dazu Kasten). Um Geld für dieses Projekt zu sammeln, reist Shalah nun für einige Wochen durch Europa, um auf die Lage von afghanischen Frauen aufmerksam zu machen.

Shalah selbst ist in einem Flüchtlingslager in Peshawar aufgewachsen, nachdem ihre Mutter mit den Töchtern vor den russischen Besatzern aus Afghanistan geflohen war. Im Lager besuchte sie als Teenager erstmals eine Schule, in der Rawa-Frauen unterrichteten. Dort lernte sie auch die Gründerin der Organisation, Meena, kennen, die später ermordet wurde. Aus Dankbarkeit für ihre Ausbildung schloss sich Shalah der Frauenbewegung an.


Falter: Die Rawa-Frauen haben sich schon vor Monaten für einen militärischen Einsatz gegen die Taliban ausgesprochen, - allerdings unter der Schirmherrschaft der UNO. Was halten Sie von den US-Bombardements auf Afghanistan?


Shalah: Wir sind total dagegen. Die Amerikaner treffen immer mehr zivile Ziele. Aber es wurde noch kein einziges Mitglied der al-Qa'ida oder der Taliban getötet. Das heißt nicht, dass wir die Terroristen unterstützen. Die Menschen in New York haben mein aufrichtiges Mitgefühl. Aber die Bomben nützen nur den Taliban und fundamentalistischen Gruppen in der ganzen Welt. Die Fundamentalisten können so die religiösen Gefühle der Menschen und ihre Wut über die Bomben instrumentalisieren.

Ihre Organisation ist auch gegen die Nordallianz. Warum?


Es gibt keinen Unterschied zwischen den Taliban und der Nordallianz. Sie foltern und knechten das Volk genauso. Unter der Nordallianz würde die Lage in Afghanistan noch aussichtsloser, besonders für die Frauen. Die Menschen in Afghanistan fürchten sich mehr vor der Nordallianz als vor den US-Angriffen. Zuerst haben die USA die Taliban unterstützt und aufgerüstet, um sie gegen die Sowjetunion einzusetzen. Jetzt wiederholen die USA diesen Fehler bei der Nordallianz. Weil sie eben ein wirtschaftliches Interesse in dieser Region haben. Dieser Wahnsinn muss endlich aufhören. Fundamentalismus zu unterstützen ist auf jeden Fall die falsche Politik.

Wie soll man die Taliban Ihrer Meinung nach loswerden?


Die Taliban werden noch immer finanziell und militärisch unterstützt - von Pakistan, aber auch von anderen Ländern. Damit muss Schluss gemacht werden. Die Taliban haben keine eigenen Einkommensquellen. Der Westen soll keine Bomben schicken, sondern die demokratischen Bewegungen in Afghanistan, die es ja gibt, unterstützen. Denn wir müssen die Lage selbst verbessern. Das kann nicht nur über Druck von außen funktionieren. Das ist unser Job!

Rawa unterstützt den Exilkönig Mohammed Zahir Schah. Ist Ihr Ziel nicht eine Demokratie?


Wie alle anderen Nationen der Welt wollen auch die Afghanen in einem freien, unabhängigen, demokratischen Staat leben. Aber da haben wir noch einen langen Kampf vor uns. Die Rückkehr des ehemaligen Königs wäre die im Moment sinnvollste Übergangslösung. Denn dafür spricht sich die Mehrheit der Bevölkerung aus.

Unterstützen die afghanischen Frauen die Anliegen und Ziele Ihrer Organisation?


Wir können in Afghanistan nicht unter unserem Namen auftreten. Aber die Frauen wissen, dass wir uns für sie einsetzen. Neben 2000 aktiven Mitarbeiterinnen unterstützen uns viele Tausende Frauen und Männer. Unsere Zeitschrift ist die beliebteste unter den Frauen in Afghanistan - zumindest unter jenen, die lesen können.

Angeblich sind viele Afghanen auch skeptisch gegenüber Rawa, weil Ihre Organisation als kommunistisch gilt.


Uns wird alles Mögliche unterstellt, weil wir eben eine unabhängige Frauengruppe sind. Die Rechten sagen, wir sind Linke. Die Linken sagen, wir sind Rechte. Fundamentalisten sagen, wir sind Prostituierte. Uns wurde vorgeworfen, dass wir von den Russen finanziert werden. Und von den USA. Ja, sogar von islamischen Fundamentalisten. Das ist alles Unsinn: Wir sind unabhängig. Wir kämpfen für Menschenrechte, für Frauenrechte.

Haben die Gesetze, die das Taliban-Regime für Frauen vorsieht, überhaupt noch irgendetwas mit dem Islam zu tun?


Nein. Die Taliban benutzen die Religion, um Frauen zu foltern. Frauen dürfen nicht arbeiten, nicht alleine auf die Straße, sich nicht schminken, nicht ihr Gesicht zeigen. Sie dürfen nicht laut sprechen, nicht einmal ihre Schritte soll man hören. Sie erhalten keine Bildung. Es gibt auch viele andere rückwärtsgewandte islamische Staaten. Aber in Afghanistan sind diese absurden religiösen Regeln Gesetz.

Trotzdem sind die Rawa-Frauen auch in Afghanistan aktiv und dokumentieren die Verbrechen der Taliban. Wie ist Ihre Arbeit überhaupt möglich?


Die Taliban dürfen nicht bemerken, dass die Frauen mehrere verschiedene Häuser besuchen. Wir haben aber viel Erfahrung darin, das unauffällig abzuwickeln. Für diese Arbeit ist die Burka fast schon wieder ein Vorteil, weil man sich als Frau in Afghanistan unerkannt bewegen kann. Ohne die Unterstützung von aufgeschlossenen Männern geht das aber nicht, denn Frauen dürfen, wie gesagt, nicht alleine auf die Straße. Die riskanteste Arbeit für Rawa ist es, die Verbrechen der Taliban mit kleinen Digitalkameras zu dokumentieren. Ich war einmal in einem solchen Team, habe es aber nicht persönlich gemacht. Der Leseunterricht für Mädchen wiederum findet nie in denselben Häusern statt, unsere Frauen vereinbaren mit den Schülerinnen jedes Mal eine andere Zeit und einen anderen Ort für das nächste Zusammentreffen, damit man uns nicht so leicht ausspionieren kann. Außerdem wird nur in sehr kleinen Gruppen unterrichtet, damit alles nach einem kleinen Familien- oder Bekanntentreffen aussieht, falls man uns überrascht.

Wie kann eine afghanische Frau von sich aus Kontakt zu Ihrer Einrichtung bekommen?


Wir sind ständig auf der Suche nach Leuten, denen wir vertrauen können. Erst dann informieren wir sie über unsere Arbeit bei Rawa. Ich selbst koordiniere diese Arbeit in Afghanistan mit und versuche Netzwerke aufzubauen. Wir vermitteln auch Heimarbeit wie das Knüpfen von Teppichen. Denn offiziell dürfen Frauen in Afghanistan ja keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Frauen ohne männliche Verwandte bleibt also nur noch das Betteln.

Sie haben schon gesagt, dass es in vielen islamischen Ländern für Frauen nicht leicht ist. Warum ist es in Afghanistan derart schlimm?


Wegen der fundamentalistischen Schulen, die viele junge Männer besuchen. Viele von ihnen sind Kriegswaisen und hatten nie Kontakt zu Frauen, weil sie keine weiblichen Verwandten wie Schwestern oder Mütter hatten. Der Westen sollte sich also nicht unbedingt darum kümmern, die Kontrolle über die vielen verschiedenen Volksgruppen zu bekommen, sondern vor allem versuchen, diese fundamentalistischen Schulen zu schließen.

Kann es in Afghanistan in absehbarer Zeit überhaupt zu einer Gleichstellung von Frauen und Männern kommen?


Das wird ein sehr langer Weg sein. Es hängt von den jeweiligen Regierungen ab, wie sie Religion handhaben. Wenn die Religion ein Teil der Politik, der Wirtschaft, des sozialen Lebens ist, dann wird es keine Gleichberechtigung geben. Deswegen streben wir eine säkularisierte Gesellschaft an, eine Trennung von Religion und Staat.
Ist der Islam frauenfeindlicher als andere Religionen?

Ja, ich glaube schon. Es diskriminieren zwar alle Religionen die Frauen ein wenig, aber der Islam sicher am meisten: Es gibt einige Sätze und Paragrafen im Koran, die festschreiben, wie sich Frauen zu benehmen haben. Jeder Mann kann etwa vier Frauen unter seinem Dach haben. Ein anderer Satz lautet, "wenn deine Frau nicht deiner Meinung ist, darfst du sie schlagen". Religion hat also viel mit der Reife des Einzelnen zu tun, wie er diese alten Vorschriften handhabt. Der Staat sollte sich beim Glauben deswegen nicht einmischen.

Sind Sie immer noch Muslimin?


Ja.

Gehört für Sie das Tragen eines Kopftuches dazu?


Nicht unbedingt. In Pakistan, wo ich lebe, ist es üblich, ein Kopftuch zu tragen. In Europa, während meiner Aufklärungstour, trage ich aber keines.

Verstehen Sie, dass dennoch viele Frauen auch hier Ihren Kopf bedecken oder sich verschleiern, weil sie sich dadurch geschützter fühlen?


Natürlich. Aber jede Frau soll selbst entscheiden können, ob sie ein Kopftuch tragen will oder nicht. Dasselbe gilt für die Burka.

Was ist für Sie am schlimmsten, wenn Sie an die heutige Situation in Afghanistan denken?


Viele meiner Kolleginnen bei Rawa haben sicher viel Schrecklicheres gesehen als ich: die Strafen der Taliban, die Exekutionen oder das Händeabhacken, jeden Freitag werden in einem Sportstadion all diese Dinge durchgeführt. Für mich persönlich ist es aber auch sehr traurig mitanzusehen, wie eine ganze Generation verloren geht. Die jungen Menschen in Afghanistan dürfen keinen Sport treiben und keine Musik machen, weil jede Art von Unterhaltung untersagt ist. Eine ganze Generation bekommt keine Schulbildung. Das macht es umso schwerer, dass sich in Afghanistan bald etwas ändert.


SPENDENAKTION
Rawa-Spital in Islamabad


Gemeinsam mit der Hilfsorganisation CARE Österreich und der Ludwig-Boltzmann-Forschungsstelle "Frauen - Außenpolitik - Menschenrechte" unterstützt der Falter eine Spendenaktion, mit der Rawa nun ein kleines Krankenhaus in Islamabad errichten will. Dort sollen Frauen und Kinder, die aus Afghanistan geflüchtet sind, kostenlose medizinische Hilfe bekommen. In dem Spital werden ausschließlich Ärztinnen arbeiten, da sich viele moslemische Frauen nicht von Männern behandeln lassen wollen. Auch nicht wenige Männer verbieten es ihren Ehefrauen, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen. Über Details des Hilfsprojekts wird der Falter in den kommenden Wochen berichten. Nähere Informationen bekommt man bei der Boltzmann-Forschungsstelle unter E-Mail: boltzpol@hotmail.com oder Tel. 01/533 45 51. Spendenkonto von CARE: PSK 1236000, BLZ 60000, Kennwort: "Rawa: Spitalsprojekt für afghanische Frauen und Kinder".

 


From: http://www.falter.at/print/F2001_46_2.php








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